Forum E Nr.6/1999, S. 29

 

Sloterdijk macht Lehrerinnen und Lehrer überflüssig.

 

Von Ben Grewing

 

In einem Vortrag auf einer Heidegger-Tagung im bayerischen Schloß Elmau hatte Peter Sloterdijk mit dem Humanismus abgerechnet. Er hatte sich dafür ausgesprochen, anstelle der bekannten gesellschaftlichen „Zähmungen“ auch an „züchterische Steuerung der Reproduktion“, an „Selektionen“ zu denken. Mit seinem Vortrag entfachte Sloterdijk eine zum Teil emotional aufgelandene Diskussion über das Für und Wider der Gentechnik. Neben den gesellschaftlichen Folgen haben Sloterdijks Vortrag und die anschließende Diskussion auch unmittelbare Auswirkung auf Bildung, auf Unterricht und Erziehung sowie die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer.

 

Haben Comenius und Francke, Rochow, Rousseau, Pestalozzi, Herbart und Kerschensteiner den Menschen menschlicher gemacht? Mit seiner in Elmau gehaltenen Rede fordert uns Sloterdijk auf, diese Frage eindeutig mit Nein zu beantworten. Was ist passiert? Offenbar wird wieder einmal zum Angriff auf den angeblich linksliberalen Mainstream in den Köpfen der Menschen geblasen. Der, der da ins Horn stößt, ist nicht der erste. Andere Fanfarenstöße haben wir bereits in früheren Jahren vernommen, angefangen beim Historikerstreit, dann Botho Straußens ‘Bocksgesang’, zuletzt die Debatte zwischen Walser und Bubis, jetzt also Sloterdijk und Habermas.

 

Das Muster kennen wir schon. Denn diese Debatte trifft unglücklicherweise auf eine neue Bundesregierung, die seit einigen Monaten dabei ist, Schlußstriche zu ziehen, unter die Bonner Republik, unter den Wohlfahrtsstaat, oder unter soziale Gerechtigkeit. Immer ging es bei derartigen Debatten in den vergangenen Jahrzehnten darum, daß etwas erlaubt sein sollte, was vorher noch nicht erlaubt war. Mit dem Bruch von Tabus wurde und wird operiert. Dabei ging es doch meist nur darum, ein Denken zu verbreiten, das wir als Grundlage schlimmer Erfahrungen aus der Geschichte schon kennen.

 

Sloterdijks Thesen betreffen in letzter Konsequenz auch die Arbeit der Pädagogen. Denn das wichtigste pädagogische Ziel heißt nach wie vor Mündigkeit. Damit ist vielfach Emanzipation im Sinne einer selbstbestimmten Lebensgestaltung gemeint. Dazu gehört auch die Achtung vor dem Heranwachsenden, vor der Kultur, in der wir leben, vor einer demokratischen Gesellschaft, vor ethischen, also auch humanistischen, Grundnormen. Eine der wesentlichsten Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern war und ist die Enkulturation. Und jetzt soll das keine Gültigkeit mehr haben? Jetzt überlassen wir dies der Gentechnik? Eher scheint der Fanfarenstoß aus Elmau eine grandiose Überschätzung der naturwissenschaftlichen Forschung einerseits und eine Geringschätzung der Arbeit von Pädagogen andererseits zu sein.

 

Sloterdijk bescheinigt dem Humanismus durchaus historische Verdienste. Schließlich sei er es gewesen, der uns über Jahrtausende vor Barbarisierung und Verwilderung bewahrt habe. Nun aber sei der Humanismus tot. Auch diese These ist nicht ganz neu. Auf ihr liegt bereits die Patina einiger Jahrzehnte. Heidegger hat sie in die Welt gesetzt und damit fatale Schlüsse aus der deutschen Katastrophe gezogen. Doch während Heidegger eher daran dachte, die Erziehung des Menschengeschlechts zu verschärfen und Autorität wieder in ihren Stand zu setzen, geht Sloterdijk noch über Heidegger hinaus. Bei ihm wird aus dem gezüchtigten Menschen ein gezüchteter. Nun also soll die Gentechnik richten, was alle bisherigen Versuche, voran der Humanismus, nicht geschafft haben. Die zivilisatorischen Gefahren übersieht Sloterdijk geflissentlich. Ihm geht es nur darum, ein neues Menschengeschlecht zu formen. Daß dabei eher mit Vorschlaghämmern als mit Händen modelliert wird, spielt dabei keine Rolle. Hauptsache, das ganze Unternehmen wird mit gehörigem Tuten und Tönen als Zeitenwende im Denken rechtzeitig zum Milleniumswechsel unter die Leute gebracht. Hauptsache, da gewinnt wieder einer in eigener Sache die Lufthoheit über den deutschen Stammtischen.

 

Schade eigentlich, daß Sloterdijks Elmauer Rede in vielem holzschnittartig geblieben ist. So macht er sich nicht die Mühe, zwischen negativer und positiver Eugenik zu unterscheiden. Munter überspringt er alle Frontverläufe der bisherigen öffentlichen Debatte über Gentechnik, um direkt beim letzten zu landen, bei der Züchtung eines neuen Menschengeschlechts. Nietzsche läßt grüßen. Zwar spricht er an einer Stelle von einem Codex der Anthropotechniken. Doch fragt sich das Publikum, was das noch sein kann, nachdem der Humanismus, der zuvor mit Ethik schlechthin gleichgesetzt wurde, bereits für tot erklärt wurde. Auch andere Passagen sind unklar, oder sollen es sein. Bei Sloterdijk wird die Genetik selbst zur Ethik. Kann sie das leisten? Geben die Gene das her? Und wer Züchtung meint, muß Selektion sagen. Dieser Begriff aber ist zugleich der furchtbarste des ganzen Gedankengebäudes, das vor uns aufgerichtet wird. Was nun allein noch fehlt, ist die Macht, die Züchtung betreibt.

 

Lehrerinnen und Lehrer waren und sind dem Humanismus verpflichtet. Diese Orientierung ist zugleich vernünftig und ethisch begründet. Die Arbeit der Pädagogen ist bis heute dem antizipierten Besseren im Menschen verpflichtet. Unterricht und Erziehung haben in den vergangenen Jahrtausenden manche wechselvolle Entwicklung erfahren und auch manchen Rückschlag hinnehmen müssen. Tatsache ist und bleibt jedoch, daß es keinen Ersatz für die durch Bildung betriebene Enkulturation der Menschen gibt. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, aber es ist eins, das uns weit gebracht hat. Wir können auf Bildung im humanistischen Sinne trotz ihres Versagens etwa während der Zeit des Dritten Reiches nicht verzichten. Gerade zu Beginn des heraufziehenden Zeitalters, das noch so neu ist, daß wir es in zunächst noch wärmender Rückbesinnung an das jetzt zu Ende gehende als postmodern bezeichnen, gerade in einer Zeit, in der alle Grundsätze, auch Werte, wie bei einer Revision in Frage gestellt werden, muß Erziehung zum Humanismus eine feste Größe bleiben.

 

Wenn es nur noch die Gesetze der Gentechnik gäbe, durch Erziehung nicht, geschweige denn durch Ethik, gedämpft, wenn Menschen also, so die Vorstellung, nach wessen Ebenbild auch immer, geschaffen werden könnten, dann bräuchten wir wohl letztlich auch keine Bildung mehr. Und Lehrerinnen und Lehrer schon gar nicht. Denn was Biotechnik, Biochemie und Genetik an Handlungsbedarf noch lassen, das könnte natürlich mit den Mitteln der nun auch schon nicht mehr ganz so neuen Medien gelöst werden. Aus Erziehung würde Züchtung. Kaum auszumalen, welche gesellschaftlichen Implikationen diese zutiefst antidemokratische Geisteshaltung bereithält. Obwohl, Vorbilder, auch literarische gibt es genug. (Wird das ein Fest, wenn der Anbruch des Jahres 1984 mit dem Eintritt in die brave new world auf einen Tag fällt.) Wird das ein Erwachen, wenn der Anbruch des Orwellschen Jahres ‘1984’ mit dem Beginn von Huxleys ‘Brave new world’ auf einen Tag fällt.

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