Forum E Nr. 3/2001, S. 19

 

Ganztagsschule - schulpolitischer Quantensprung oder Fata Morgana in der Planungswüste?

Schulpolitisches Hearing des VBE Rheinland-Pfalz am 22. März 2001

 

von Ben Grewing

 

Johannes Müller, der VBE-Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz, fragte sich in seinem Eingangsstatement, ob es sich bei der Ganztagsschule nicht eher um einen Wahlkampfschlager handele. Der VBE in Rheinland-Pfalz hat in den Wochen zuvor eine Umfrage zum Thema Ganztagsschule durchgeführt. Das wichtigste Ergebnis dieser Umfrage war das positive Echo auf den Vorschlag Ganztagsschule. Müller machte allerdings deutlich, dass es nun darum gehen werde, die Rahmenbedingungen zu klären. Die Ganztagsschule dürfe keine Verwahranstalt werden. Ganz wichtig sei eine ausreichende Lehrerversorgung und, dass es keine zusätzliche Belastung für die Lehrerinnen und Lehrer gebe.

 

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann von der Universität Bielefeld beschrieb die gewandelte Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen. Er machte deutlich, dass es Kindern und Jugendlichen heute zwar materiell außerordentlich gut gehe, dass ihre Lebenssituation insgesamt aber auch durch sehr viel mehr Offenheit gekennzeichnet sei. Folge dieser Entwicklung sei vor allem die Individualisierung, die allzu oft in Egozentrik überzugehen drohe. Hinzu komme, dass die Kindheitsphase immer kürzer geworden sei. Viele Kinder und Jugendliche seien von einer neuen Unübersichtlichkeit überfordert. Gesellschaftliche Erscheinungen wie Drogen, Fehlernährung und gesundheitliche Schäden bei Kindern und Jugendlichen seien letztlich ein Indiz für die eklatant gewandelte Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen. Aus der Tatsache, dass die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen sich geändert habe, zog Hurrelmann den Schluss, dass Unterricht und Erziehung in den Schulen stärker miteinander verbunden werden müssten. Diese Verbindung sei eine tragfähige Begründung für die Ganztagsschule.

 

Im Anschluß behandelte Hurrelmann die gewandelte gesellschaftliche Situation der Eltern. Die Erziehung sei in den letzten Jahren komplexer geworden. Viele Familien hätten mit Problemen zu kämpfen. Junge Paare würden sich heute mehr als früher überlegen, ob sie überhaupt Kinder bekommen sollten. Kinder würden zunehmend als wirtschaftliche Belastung gesehen. Oft seien beide Elternteile berufstätig. Folge dieser Entwicklung sei, dass Kindern und Jugendlichen der familiäre Zusammenhalt fehle. Die gewandelte gesellschaftliche Situation der Eltern, so Hurrelmann, führe zu einer Situation, in der Eltern Hilfe bräuchten. Dieser Begründungszusammenhang spreche ebenfalls für die Ganztagsschule.

 

Abschließend formulierte Hurrelmann grundlegende Anforderungen an die Ganztagsschule. Die Ganztagsschule müsse kognitives und soziales Lernen verbinden. Sie sei keine in die Länge gezogene Halbtagsschule. Auch dürfe man nicht dem Trugschluss unterliegen, dass es nur eine mögliche Form gebe. Letztlich gebe es viele verschiedene Organisationsmodelle. Mit Blick auf die unterschiedlichen Wünsche der Eltern stellte er klar, dass die Ganztagsschule nur ein Angebot sein könne. Am Ende seines Vortrages wurde Hurrelmann etwas visionär, als er sich vorstellte, dass die Ganztagsschule eventuell nur Angebote von verschiedenen Seiten, also kommunalen, kirchlichen, gewerkschaftlichen etc. moderieren oder managen könnte, um ganztägige Angebote machen zu können.

 

Prof. Dr. Jürger Zöllner, Staatsminister für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung in Rheinland-Pfalz, nahm zu vier Fragen Stellung.

 

1.          Warum soll die Ganztagsschule eingeführt werden?

Bei seiner Antwort bezog sich Zöllner im Wesentlichen auf die Einlassungen Hurrelmanns. Er machte nur einige Ergänzungen aus bildungspolitischer Sicht. So wies er darauf hin, dass die Ganztagsschule eine notwendige Ergänzung der bereits jetzt bestehenden Schulformen sei. Die Ganztagsschule werde darüber hinaus die Möglichkeit bieten, für die Förderung von Beeinträchtigten, Migranten und Begabten mehr Zeit aufzuwenden. Im Folgenden ging er noch einmal auf die allgemein politische Bedeutung einer Ganztagsschule ein. Dabei verwies er auf gesellschafts-, familien- und vor allem frauenpolitische Vorteile.

 

2.          Warum soll die Ganztagsschule jetzt eingeführt werden?

Zöllner machte zunächst die etwas verschmitzte Bemerkung, dass wahrscheinlich nur ein Schalk sich Böses dabei denke, dass der Vorschlag, die Ganztagsschule einzuführen, kurz vor der Wahl der Öffentlichkeit präsentiert worden sei. Er hielt gleichzeitig aber fest, dass es gute Gründe gebe, die Ganztagsschule erst jetzt einzuführen. Sie sei ein Schritt auf dem Weg zur Modernisierung des rheinland-pfälzischen Schulwesens. Andere Schritte hätten vorher getan werden müssen. In diesem Zusammenhang erinnerte er an die Einführung der Regionalen und der Vollen Halbtagsschule. In den letzten Jahren sei man zudem damit beschäftigt gewesen, das Schulwesen angesichts eines Schülerzahlenanstiegs zu konsolidieren. Erst jetzt ergäben sich Spielräume für einen weiteren Reformschritt in Richtung Ganztagsschule.

 

3.  Was sind die Eckpunkte der Ganztagsschule?

Zöllner stellte fest, dass die Ganztagsschule als pädagogisches Angebot gedacht sei. Dieses Angebot müsse aber nicht nur von Lehrerinnen und Lehrern bestritten werden. Dennoch dürfe es in der Ganztagsschule keine Betreuung geben. Weiterhin sagte er zu, dass es keine Mehrbelastung geben werde. Gerade deshalb würden für den Bereich der Ganztagsschule in Zukunft 1.000 neue Stellen vorgesehen. Darüber hinaus machte er deutlich, dass das Angebot der Ganztagsschule nur freiwillig gemeint sein könne und dass es keinen Zwang geben dürfe. Insgesamt diene die Ganztagsschule der Weiterentwicklung des Schulsystems. Dabei müssten Ganztagsangebote letztlich von allen Schularten gemacht werden.

 

4.  Wie kann die Einführung der Ganztagsschule gestaltet werden?

Zöllner kündigte an, dass in einem ersten Schritt zunächst 20% der Schulen in Rheinland-Pfalz in Ganztagsschulen umgewandelt werden könnten. Dabei werde es darauf ankommen, ein Grundraster für die Funktionsweise und die Struktur einer Ganztagsschule zu entwickeln, an dem sich die einzelnen Schulen orientieren könnten. Jenseits dieses Grundrasters hätten dann die Schulen Freiräume zur Ausgestaltung. Die Situation in den Schulen sei derart unterschiedlich, dass eine landesweit gültige Vorgabe verfehlt sei. Abschließend verwies Zöllner auf mögliche Probleme bei der Umsetzung der Ganztagsschule. Insbesondere verwies er auf das Problem, in den Schulen ein tägliches Mittagessen zur Verfügung zu stellen, und auf Transportprobleme, bei denen vor allem die Mithilfe der Kommunen gefragt sei.

 

Die sich anschließende Diskussion konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Frage, wie die Ganztagsschule eingeführt werden könne, wenn doch bislang nicht einmal die Einführung der Vollen Halbtagsschule abgeschlossen sei. Viele Beiträge aus dem Publikum beschäftigten sich mit alltäglichen Problemen in Unterricht und Erziehung der Vollen Halbtagsschulen. Von Seiten der Bildungspolitiker, die sich im Publikum befanden, unter ihnen der ehemalige Kultusminister Gölter, wurden dagegen eher finanzpolitische und kommunalpolitische Probleme ins Feld geführt. Insgesamt allerdings waren sich sowohl das Podium wie auch das Publikum einig, dass die Einführung einer Ganztagsschule aus bildungspolitischen, pädagogischen und familienpolitischen Gründen sinnvoll und nützlich sei.

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